Tattoos, Sportunfälle und Arbeitsunfähigkeit: Wann der Entgeltfortzahlungsanspruch in Gefahr ist

23.07.2025
Arbeitsrecht
6 Minuten

Tattoos und Sport gehören für viele Menschen zum Alltag. Was passiert aber, wenn eines von beiden zu gesundheitlichen Problemen führt und man deshalb der Arbeit fernbleiben muss? Sind Arbeitgeber in solchen Szenarien weiterhin zur Entgeltfortzahlung verpflichtet? Die Rechtsprechung musste jüngst über einen Fall entscheiden, in dem es um eine Infektion nach einer Tätowierung und einer darauf beruhenden Arbeitsunfähigkeit ging. Anhand dieser Entscheidung erläutern wir, wann aufgrund einer Erkrankung (oder Verletzung) nach einer Tätowierung (oder einem Sportunfall) der Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall entfällt. 

Private Aktivitäten führen zur Arbeitsunfähigkeit: Die rechtliche Perspektive 

Grundsätzlich gilt: Ist ein Arbeitnehmer aufgrund einer Krankheit arbeitsunfähig, hat er gem. § 3 Abs. 1 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Dies gilt jedoch nicht, wenn der Arbeitnehmer die Arbeitsunfähigkeit selbst „verschuldet“ hat. 

Hierbei geht es um ein sog. „Verschulden gegen sich selbst“. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts handelt ein Arbeitnehmer schuldhaft, wenn er in erheblichem Maße gegen die von einem verständigen Menschen im eigenen Interesse zu erwartende Verhaltensweise verstößt. Erforderlich ist ein grober Verstoß gegen das Eigeninteresse eines verständigen Menschen und damit ein besonders leichtfertiges oder gar vorsätzliches Verhalten. 

Das Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein hatte in diesem Zusammenhang über den Fall einer Arbeitnehmerin zu entscheiden, die nach einer Tätowierung an einer schweren bakteriellen Infektion litt und deswegen arbeitsunfähig wurde (Urteil vom 22. Mai 2025 – Az. 5 Sa 284 a/24). Das Landesarbeitsgericht stellte fest, dass der Anspruch auf Entgeltfortzahlung in diesem Fall nicht mehr bestand, da die Arbeitsunfähigkeit von der Arbeitnehmerin schuldhaft herbeigeführt wurde. Es schloss sich damit dem Arbeitsgericht in der ersten Instanz ein, welches ebenfalls bereits gegen die Arbeitnehmerin und für den Arbeitgeber entschieden hatte. 

Die Begründung des Gerichts: 

Der maßgebliche Streitpunkt war, ob die Arbeitnehmerin vorsätzlich im Hinblick auf die erlittene Infektion handelte, also ob sie diese „billigend in Kauf nahm“: Obwohl die Arbeitnehmerin die Infektion nicht als notwendige Folge der Tätowierung ansah, musste sie nach Ansicht des Gerichts damit rechnen, dass diese Komplikation eintreten würde. Dies wurde insbesondere damit begründet, dass die Klägerin selbst von einem Komplikationsrisiko von bis zu 5 % gesprochen hatte, was laut Gericht nicht als „völlig fernliegend“ anzusehen ist. Bei Medikamenten gelte eine Nebenwirkung bereits ab 1 % Häufigkeit als "häufig". Das Gericht ging deshalb von einen bedingten Vorsatz hinsichtlich der Komplikation aus, indem die Arbeitnehmerin sich (vorsätzlich) tätowieren ließ und dabei sodann billigend in Kauf nahm, dass die Tätowierung sich auch entzünden könne. 

Das Gericht berücksichtigte zudem folgende weitere Punkte: 

  • Beruf als Pflegehilfskraft: Das Gericht berücksichtigte zudem, dass die Arbeitnehmerin als Pflegehilfskraft einen körperlich anstrengenden Beruf mit engem Patientenkontakt ausübt, was das Risiko von Infektionen nach einer Tätowierung möglicherweise zusätzlich erhöht. 

  • Vergleich mit Sportunfällen: Das Gericht zog zudem Parallelen zur Rechtsprechung bei Sportunfällen. Auch hier gilt, dass eine Verletzung dann als „selbst verschuldet“ gilt (und kein Anspruch auf Entgeltfortzahlung besteht), wenn sich Arbeitnehmer in einer ihrer „Kräfte und Fähigkeiten deutlich übersteigenden Weise“ sportlich betätigen oder in besonders grober Weise und leichtsinnig gegen anerkannte Regeln der jeweiligen Sportart verstoßen. Besonders gefährliche Sportarten, bei denen das Verletzungsrisiko so groß ist, dass es auch ein gut ausgebildeter Sportler nicht vermeiden kann, können ebenfalls zum Entfall des Entgeltfortzahlungsanspruchs führen. Das Gericht sah in der bewussten Inkaufnahme eines nicht unerheblichen Risikos bei der Tätowierung eine vergleichbare Sachlage. 

  • Wertung des § 52 Abs. 2 SGB V: Das Landesarbeitsgericht verwies zudem auf die Vorschrift des § 52 Abs. 2 SGB V. Hiernach gilt: Hat sich ein Versicherter „eine Krankheit durch eine medizinisch nicht indizierte ästhetische Operation, eine Tätowierung oder ein Piercing zugezogen“, kann die Krankenkasse die Kostenbeteiligung fordern und das Krankengeld ganz oder teilweise versagen. Obwohl diese Norm direkt nur für Krankenkassen gilt, entnimmt das Gericht ihr die gesetzliche Wertung, dass Tätowierungen mit einem offensichtlich nicht unerheblichen Risiko verbunden sind und dieses Risiko derjenige tragen soll, der es veranlasst hat. 

Praktische Auswirkungen für Arbeitnehmer und Arbeitgeber 

Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts hat sowohl für Arbeitnehmer als auch für Arbeitgeber weitreichende Konsequenzen: 

Für Arbeitnehmer: 

Eigenverantwortung bei riskanten Freizeitaktivitäten: Nicht nur bei Tätowierungen, sondern auch bei anderen riskanten Aktivitäten, die ein relevantes Gesundheitsrisiko bergen, müssen Sie mit der Möglichkeit rechnen, Ihren Anspruch auf Entgeltfortzahlung zu verlieren, wenn Sie Ihre Arbeitsunfähigkeit durch grob fahrlässiges oder vorsätzliches Verhalten selbst verschuldet haben. 

Tätowierungen: Achten Sie bei der Wahl des Tätowierers auf höchste Hygienestandards und befolgen Sie die Nachsorgeanweisungen penibel. Sollte es zu Komplikationen kommen, kann die bewusste Inkaufnahme eines nicht unerheblichen Risikos – insbesondere bei Kenntnis statistischer Wahrscheinlichkeiten für Komplikationen – zu einem Problem für Ihren Entgeltfortzahlungsanspruch werden. 

Sport: Wenn Sie Sport treiben, der Ihre Fähigkeiten deutlich übersteigt, oder Sie grob und leichtsinnig gegen Regeln verstoßen, kann auch hier der Anspruch auf Entgeltfortzahlung entfallen. Dies gilt insbesondere für "besonders gefährliche Sportarten", bei denen das Verletzungsrisiko bereits objektiv sehr hoch ist. 

Meldepflichten beachten: Informieren Sie Ihren Arbeitgeber unverzüglich über Ihre Arbeitsunfähigkeit und legen Sie eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU) vor, sobald diese vorliegt bzw. beachten das elektronische Verfahren. Dies gilt unabhängig von der Frage des Verschuldens. 

Für Arbeitgeber: 

Fortzahlungspflicht prüfen: Die grundsätzliche Entgeltfortzahlungspflicht bleibt bestehen. Sie können die Fortzahlung jedoch dann verweigern, wenn Sie nachweisen können, dass Arbeitnehmer die Arbeitsunfähigkeit grob fahrlässig oder vorsätzlich selbst herbeigeführt haben. Das Urteil des LAG Schleswig-Holstein zeigt, dass der „Vorsatz“ auch ein bedingter sein kann, der sich auf die Inkaufnahme des Risikos einer Komplikation bezieht. 

Beweislast: Als Arbeitgeber tragen Sie die Beweislast dafür, dass der Arbeitnehmer seine Arbeitsunfähigkeit schuldhaft verschuldet hat. Dies erfordert eine sorgfältige Sachverhaltsaufklärung und Beweissicherung. Im Falle einer Tätowierung könnte dies die Recherche zum Studio, den Hygienestandards oder die Aufklärung über Komplikationsrisiken umfassen. Bei Sportunfällen sind insbesondere die Umstände des Unfalls und die Art der Sportausübung entscheidend. Sollten Sie jedoch keinerlei Anhaltspunkte dafür haben, dass die Arbeitsunfähigkeit auf entsprechende gefährliche Aktivitäten zurückzuführen ist, sollten Sie grundsätzlich davon ausgehen, dass der Entgeltfortzahlungsanspruch besteht. 

Dokumentation: Dokumentieren Sie alle relevanten Informationen (Meldung der Arbeitsunfähigkeit, AU-Bescheinigung, ggf. Kenntnisse über die Art der Aktivität und mögliche Risikobereitschaft des Arbeitnehmers). 

Fallstricke: 

Die Abgrenzung zwischen zulässigem Freizeitverhalten und schuldhaftem Herbeiführen der Arbeitsunfähigkeit ist oft schwierig und hängt von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab. Ein bloßes Restrisiko, das jede Aktivität mit sich bringt, reicht grundsätzlich nicht aus. Es müssen konkrete Anhaltspunkte für ein besonders leichtfertiges, rücksichtsloses oder vorsätzliches Verhalten vorliegen. Als Arbeitgeber sollten Sie daher nicht vorschnell die Entgeltfortzahlung verweigern, ohne eine fundierte rechtliche Prüfung vorgenommen und den Sachverhalt zuvor aufgeklärt zu haben. 

Handlungsempfehlungen: 

Um rechtliche und kostspielige Auseinandersetzungen zu vermeiden, empfehlen wir Arbeitgebern, die den Verdacht oder sogar die Kenntnis darüber haben, dass eine Arbeitsunfähigkeit auf privaten Aktivitäten beruht, folgende Vorgehensweisen: 

Sachverhaltsprüfung: Bei Arbeitsunfähigkeit infolge privater Aktivitäten sollten Sie zunächst von der Entgeltfortzahlungspflicht ausgehen. Prüfen Sie aber im Einzelfall sorgfältig, ob konkrete Anhaltspunkte für ein grob fahrlässiges oder vorsätzliches Verhalten des Arbeitnehmers vorliegen, das die Arbeitsunfähigkeit herbeigeführt hat. Hierbei kann in vielen Fällen auch eine (schriftliche) Anhörung des Arbeitnehmers helfen, bei der wir Sie gern unterstützen. 

Beweissicherung: Sollten Sie Anhaltspunkte für ein schuldhaftes Verhalten haben, sammeln Sie entsprechende Beweise (z.B. Zeugenaussagen, Bilder, Informationen über die jeweilige Aktivität und deren typische Risiken). 

Rechtliche Beratung ist häufig unerlässlich: Die Bewertung, ob ein „Verschulden gegen sich selbst“ vorliegt, ist eine komplexe juristische Frage, die von vielen Faktoren abhängt. Bevor Sie die Entgeltfortzahlung verweigern, sollten Sie sich unbedingt arbeitsrechtlich beraten lassen. Eine voreilige falsche Einschätzung kann zu erheblichen Kosten führen (Nachzahlung des Entgelts, Verzugszinsen, Gerichtskosten). 

Wir begleiten Sie bei arbeitsrechtlichen Fragestellungen 

Das Arbeitsrecht ist komplex und birgt etliche Fallstricke – so auch bei der Abgrenzung zwischen einem (noch) bestehenden Anspruch auf Entgeltfortzahlung und dem Ausschluss bei Selbstverschulden. Die Auswirkungen einer Erkrankung nach einer Tätowierung oder einer Sportverletzung sind nur zwei Beispiele dafür, wie wichtig es ist, die relevanten Vorgaben und die aktuelle Rechtsprechung zu kennen und richtig auf den spezifischen Fall anzuwenden. Unser erfahrenes Team von Arbeitsrechtsexperten steht Ihnen bei Fragen hierzu sowie zu allen sonstigen Belangen des individuellen und kollektiven Arbeitsrechts gern zur Seite. 

Sie haben Fragen oder benötigen Unterstützung? 

Zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren. Gern besprechen wir Ihren speziellen Fall und finden eine maßgeschneiderte Lösung. 

Bildnachweis:da-kuk/Stock-Fotografie-ID:1197257873

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