Es liest sich beinahe wie eine Meldung aus den USA: Einem hartnäckigen Jurastudenten wurden – nachdem er zuvor auf Minijob-Basis als Kellner in einer Münchener Gaststätte arbeitete – insgesamt etwa 100.000 Euro zugesprochen. Doch es geht um einen Fall in Deutschland, den das Landesarbeitsgericht (LAG) München vor wenigen Wochen zu entscheiden hatte: Der besagte Jurastudent versuchte während seines Arbeitsverhältnisses einen Betriebsrat zu gründen. Auf diesen Versuch folgte die Freistellung und etwas später die (fristlose) Kündigung seitens des Arbeitgebers – und hierauf ein offenkundig zäher und langandauernder Rechtsstreit.
Das LAG München entschied in zweiter Instanz, dass Forderungen des Arbeitnehmers in Höhe von fast 100.000 Euro zur Insolvenztabelle des inzwischen insolventen Arbeitgebers anerkannt werden. Zusätzlich wurde der Geschäftsführer des ehemaligen Arbeitgebers persönlich zur Zahlung von über 30.000 Euro verurteilt. Der ehemalige Arbeitgeber wurde außerdem dazu verurteilt, sich schriftlich für eine Diskriminierung beim Arbeitnehmer zu entschuldigen. Darüber hinaus ging es um Urlaubsansprüche in signifikantem Umfang sowie um die Wiederaufnahme in eine WhatsApp-Gruppe.
Nach ersten Schritten zur Betriebsratsgründung wurde der Arbeitnehmer nicht mehr zum Dienst als Kellner eingeteilt. Als er nach einigen Monaten Annahmeverzugslohn forderte, sollte er zwar wiederkommen – fortan jedoch in der Küche statt wie zuvor als Kellner arbeiten. Die Weigerung des Arbeitnehmers führte zur fristlosen Kündigung wegen angeblicher Arbeitsverweigerung. Gegen diese Kündigung zog der Arbeitnehmer vor Gericht und machte etliche Ansprüchen (Entschädigung, Annahmeverzugslohn, Schadensersatz, Erteilung einer schriftlichen Entschuldigung, Urlaubsansprüche etc.) geltend.
Neben der im Laufe des Rechtsstreits eingetretenen Insolvenz des (ehemaligen) Arbeitgebers sowie einem Betriebsübergang, in dessen Rahmen das Arbeitsverhältnis auf einen neuen Arbeitgeber übergegangen ist (der sodann ebenfalls erfolgreich in Anspruch genommen wurde), nahm der Kläger zudem auch den Geschäftsführer seines ehemaligen Arbeitgebers persönlich – erfolgreich – in Anspruch.
Das Arbeitsgericht München stufte in seiner erstinstanzlichen Entscheidung lediglich die Kündigung als unwirksam ein. Die darüber hinausgehenden geltend gemachten Ansprüche des Arbeitnehmers wies dieses zurück.
Das LAG München hob diese erstinstanzliche Entscheidung nunmehr auf und gab dem Arbeitnehmer nahezu umfassend Recht:
Schadensersatz wegen Betriebsratsbehinderung: Das Gericht wertete die Nichteinteilung des Arbeitnehmers zum Dienst sowie den Versuch der Versetzung in die Küche als unzulässige Beeinflussung der avisierten Betriebsratswahl (§ 20 Abs. 2 BetrVG), um letztlich die Betriebsratsgründung zu verhindern. Der ehemalige Arbeitgeber (sowie der Geschäftsführer persönlich!) wurden zur Zahlung von Schadensersatz wegen des damit einhergegangenen Verdienstausfalls, entgangener Trinkgelder sowie entgangener Sachbezüge (vergünstigte Speisen und Getränke) verurteilt.
Umfassende Lohnzahlung und Kostenerstattung: Der Arbeitgeber muss zudem bisher nicht vergütete Arbeitszeiten/Überstunden bezahlen, Waschkosten für die Arbeitskleidung erstatten sowie einbehaltenes „Gläsergeld“ zurückzahlen (2 Euro pro Schicht für etwaig zerbrochene Gläser, die der Arbeitgeber stets vom Lohn abgezogen hatte).
Verpflichtung zur Erteilung einer Entschuldigung: Der Arbeitgeber wurde darüber hinaus verurteilt, sich bei dem Arbeitnehmer für Formulierungen in den Schriftsätzen zu entschuldigen, bei denen es sich laut Gericht um eine Diskriminierung nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz gehandelt habe.
Urlaubsgewährung und Wiederaufnahme in WhatsApp-Gruppe: Der (neue) Arbeitgeber muss dem Arbeitnehmer des Weiteren nachträglich mehrere Monate Urlaub gewähren, da der (ehemalige) Arbeitgeber seiner Hinweis- und Mitwirkungsobliegenheit nicht nachgekommen war und der (zu großen Teilen nicht genommene) Urlaub der Vorjahre daher nicht verfallen war. Auch kurios: Der neue Arbeitgeber wurde zudem verurteilt, den Arbeitnehmer wieder in eine WhatsApp-Gruppe aufzunehmen, die zur Einteilung in die Schichten und allgemeinen Kommunikation mit den Mitarbeitern genutzt wurde.
Aufschlussreich sind zudem die Ausführungen des LAG München zu den Umständen, aus denen sich ableiten ließ, dass eine unzulässige Beeinflussung der Betriebsratswahl vorlag: In diesem Zusammenhang ließ das LAG es sich nicht nehmen, über mehr als eine Seite Ausführungen zu dem emotionalen Zustand der Ehefrau des Geschäftsführers zu machen, der sich angeblich infolge der avisierten Betriebsratswahl aufgetan hätte.
Die Entscheidung verbreitete sich innerhalb weniger Tage wie ein Lauffeuer. Obwohl das Urteil trotz seines Umfangs an einigen Aspekten etwas oberflächlich begründet scheint, ist die Entscheidung rechtlich weitestgehend nachvollziehbar. Ein Novum in der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung stellt hingegen die Verurteilung zur schriftlichen Entschuldigung für diskriminierende Äußerungen in einem Schriftsatz dar. Auch die Frage, ob Trinkgelder als entgangener Verdienst gelten und somit im Wege des Schadensersatzes seitens des Arbeitgebers zu ersetzen sind, wurde bislang kaum behandelt.
Die – angesichts des Sachverhalts (Student, Minijob, Gaststätte) – beinahe astronomisch wirkende Summe von 100.000 Euro, die der Arbeitnehmer erstritten hat, setzt sich wie folgt zusammen:
Einzelforderungen für 2019–2021 in Höhe von insgesamt knapp 9.000 Euro: Nicht vergütete Arbeitszeiten (Überstunden, Umkleidezeiten etc.) + zu Unrecht abgezogenes „Gläsergeld“ + Erstattung von nicht gezahlten Waschkosten aus den Vorjahren, in denen der Arbeitnehmer gearbeitet hatte
Schadensersatz aus den Jahren 2020 bis 2023 in Höhe von knapp 90.000 Euro:
Knapp 10.000 Euro für das Jahr 2020: 638,3 Stunden Annahmeverzug, die mit Mindestlohn zu vergüten sind + Zuschläge für Nacht- und Sonntagsarbeit + Ersatz für die entfallene Möglichkeit, nach Feierabend vergünstigte Speisen und Getränke in Anspruch zu nehmen.
Knapp 15.000 Euro für das Jahr 2021: 922,7 Stunden, die mit Mindestlohn zu vergüten sind + Zuschläge für Nacht- und Sonntagsarbeit + Ersatz für die entfallene Möglichkeit, nach Feierabend vergünstigte Speisen und Getränke in Anspruch zu nehmen.
Etwa 32.000 Euro für das Jahr 2022: 1040 Stunden Annahmeverzug + Zuschläge für Nacht- und Sonntagsarbeit + Ersatz für die entfallene Möglichkeit, nach Feierabend vergünstigte Speisen und Getränke in Anspruch zu nehmen + Trinkgelder in Höhe von fast 15.000 Euro (100 Euro pro Schicht).
Für 2023 gilt das für das Jahr 2022 festgestellte entsprechend.
Zudem wurde auch der Geschäftsführer persönlich zur Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 32.000 Euro verurteilt. Der Arbeitnehmer kann diesen Betrag jedoch nicht doppelt beanspruchen, sodass es bei insgesamt etwa 100.000 Euro bleibt.
Die Entscheidung zeigt in einem ungewöhnlich harten Ausmaß, wie risikobehaftet ein langer Rechtsstreit mit dem damit einhergehenden Annahmeverzug sein kann. Zudem ruft sie in Erinnerung, dass Geschäftsführer einer GmbH auch persönlich in Anspruch genommen werden können, wenn die Voraussetzungen der sog. Durchgriffshaftung vorliegen.
Ob das Novum der ausgeurteilten Verpflichtung des Arbeitgebers, sich bei dem zu Unrecht gekündigten Arbeitnehmer für die diskriminierenden Äußerungen zu entschuldigen, eine neue Dynamik in Kündigungsschutzprozesse bringt, bleibt abzuwarten.
Bereits im Vorfeld einer beabsichtigten Kündigung sollten Arbeitgeber sich rechtlichen Rat einholen. Sollte sich nach Ausspruch einer Kündigung ein (langwieriger) Kündigungsrechtsstreit abzeichnen, sollten Arbeitgeber und Anwalt regelmäßig gemeinsam prüfen, ob das Annahmeverzugsrisiko begrenzt werden kann. Sei es durch eine einvernehmliche Einigung, das Zusenden von Stellenanzeigen oder aber auch durch eine Prozessbeschäftigung.
Die Entscheidung des LAG München sendet auch ein Warnsignal an die Verfasser von Schriftsätzen: Äußert ein Arbeitgeber bzw. dessen Prozessvertreter sich in diesem Rahmen unvorsichtig und verstößt damit gegen das AGG, kann hieraus nicht nur ein Entschädigungsanspruch resultieren, sondern der Arbeitgeber auch zur Erteilung einer Entschuldigung verurteilt werden.
Bei Betriebsratswahlen und der Vorbereitung ist aus Sicht eines Arbeitgebers besondere Zurückhaltung geboten. Die Be- oder Verhinderung einer solchen ist nicht nur unzulässig (§ 20 Abs. 3 BetrVG), sondern stellt zudem eine Straftat dar (§ 119 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG). Sollte gleichwohl eine Trennung von einem Mitarbeiter im Zusammenhang mit Betriebsratswahlen beabsichtigt sein, so ist eine umfassende rechtliche Prüfung im Vorfeld unerlässlich.
Abschließend zeigt die Entscheidung auch noch einmal auf, dass die Hinweis- und Mitwirkungsobliegenheit eines Arbeitgebers im Zusammenhang mit der Gewährung von Urlaubstagen ernst genommen werden muss. Kommen Arbeitgeber dieser nicht nach, sammelt sich nicht genommener Urlaub ewig an. Dies kann – wie auch in diesem Fall – dann auch einen neuen Arbeitgeber treffen, der den Betrieb im Wege des Betriebsübergangs übernommen hat. Insofern gilt wie immer: Augen auf bei einer Due Diligence!
Das Arbeitsrecht ist komplex und birgt etliche Fallstricke. Die Entscheidung des LAG München zeigt auf eine besonders eindrucksvolle Weise, wie wichtig es ist, arbeitsrechtliche Vorgaben – insbesondere im Zusammenhang mit der Gründung eines Betriebsrats sowie damit im zeitlichen Zusammenhang stehenden Kündigungen – einzuhalten. Auch der korrekte Umgang mit dem Annahmeverzugsrisiko während eines über mehrere Jahre dauernden Rechtsstreits gehört zu den unabdingbaren Aspekten, wenn es um die Trennung von Mitarbeitern geht. Unser erfahrenes Team von Arbeitsrechtsexperten steht Ihnen bei Fragen hierzu sowie zu allen sonstigen Belangen des individuellen und kollektiven Arbeitsrechts gern zur Seite.
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Download des Urteils: Landesarbeitsgericht München, Entscheidung, Aktenzeichen: 11 Sa 456/23
Bildnachweis:Nikada/Stock-Fotografie-ID:1178553388